Das Haus am See

Das Haus am See

Erzählung

Hörfassung

gelesen von Ellen Kamrad

42 Minuten

erstellt mit Wondershare Filmora 

Musik "From the End" von Frametraxx 



Es ist ein altes Haus, aus Backsteinen gebaut. Aus ziegelroten Backsteinen, die zu glühen scheinen, wenn die Sonne darauf fällt und die immer noch Wärme ausstrahlen, wenn die Sonne schon längst untergegangen ist. Ein wuchtiger Schornstein erhebt sich aus dem stark vermoosten Dach und erinnert an die Zeit, als Holz und Kohle zum Heizen dienten. Ich stehe vor dem Haus und bin im Begriff, das rostige Gartentürchen zu öffnen, um den Kiesweg zum Eingang entlang zu gehen. Mein Blick wird – wie früher – von der Haustür geradezu gefangen gehalten. Diese Tür zieht mich zum Haus und gleichzeitig hat sie etwas Wehrhaftes, als ob sie es ist, die entscheidet, ob jemand ins Haus gelassen wird oder nicht. Sie ist aus massivem Holz, breit, wuchtig, mit einem kupferfarbenen Knauf und einem ungewöhnlichen Türklopfer. Der Türklopfer war der Schrecken meiner Kindheit. Ein Tierkopf mit einem geflochtenen Ring im Maul. Ich erinnere mich, wie Großmutter erzählte, Großvater habe ihn bei einem Kupferschmied nach einem alten Familienwappentier anfertigen lassen und dass es teuer gewesen sei. Auch jetzt erkenne ich nicht, welches seltsame Tier der Klopfer darstellt. Es sieht aus wie eine Mischung aus Löwe, Hund und Mensch. Als Kind habe ich es vermieden durch die Haustüre in das Haus zu gelangen, bin lieber über die Terrassentür eingetreten, selbst der Kellereingang war mir lieber. Der starre Blick des Tieres jagte mir Angst ein. Drinnen fühlte ich mich aber immer sehr sicher. „Der Groll“, so nannte ich das Türklopfer-Wesen, passte auf mich und alle anderen Hausbewohner auf. Er verwehrte allem Bösen den Zutritt, dachte ich in meiner Kinderphantasie. Bis zu dem Tag, an dem das Unglück unserer Familie durch genau diese Tür kam. 


Das Haus. Das Haus am See. Ort einer glücklichen Kindheit. Über zwei Jahrzehnte war ich nicht mehr hier gewesen. Jetzt stehe ich davor und werde überflutet von Erinnerungen, von Bildern und Gefühlen, die ich lange nicht mehr an mich herangelassen hatte. Mein Blick löst sich von der Haustüre und wandert die Fassade entlang, an den Sprossenfenstern, deren Rahmen einmal weiß gewesen waren. Am Efeu, der sich aus dem Garten die gesamte rechte Hälfte des Hauses hoch bis zum Dach erobert hat. Ich muss lächeln, als ich daran denke, dass Großmutter ihren hartnäckigen Kampf gegen das Gewächs und meinen Efeu-liebenden Großvater verloren zu haben schien. „Zu viel Ungeziefer“ und „Friedhofsranke“ waren ihre Schlachtrufe, bevor sie der Pflanze mit der Gartenschere regelmäßig zu Leibe rückte.


Wenn ich die staubigen Fensterscheiben betrachte, bin ich sofort gedanklich im Inneren des Hauses: Im Erdgeschoss sind die Küche und der Wohnraum, die „gute Stube“ für Sonntage und für Gäste. Im ersten Stock liegen die ehemaligen Schlafzimmer meiner Großeltern, meiner Eltern und mir. Später haben nur noch Papa und ich uns das Elternschlafzimmer geteilt. Als ich an meinen Vater denke, kommen mir die Tränen. Sein Tod hat mich schwer erschüttert. Manchmal glaube ich es immer noch nicht, dass er tot sein soll. Ich weigere mich, es zu glauben, es zu verstehen, es zu fühlen. Gleichzeitig ist in mir aber eine Leere, die mich ahnen lässt, dass es wahr ist.


Papa hat mir das Haus vererbt. Innerhalb weniger Wochen muss ich entscheiden, ob ich das Erbe antrete oder nicht. „Mit allem Schönen und allem Schrecklichen, das es birgt“, hat er sehr prosaisch in das Testament geschrieben. Und dass er verstehe, wenn ich das Haus nicht haben wolle. In das Haus hinein will ich erstmal nicht. Alles in mir sträubt sich. Also gehe ich um das Haus herum in den Garten. Über den schmalen Weg aus Trittsteinplatten, der fast zugewachsen ist. Brennnesseln, Gräser und Giersch gehen mir fast bis zur Hüfte. Ich schiebe sie mit den Füßen beiseite. Den Teil des Gartens neben dem Haus nannte Großmutter immer den Seegarten. Er war ihr liebstes Stück. Sie pflegte dort hingebungsvoll Blumen, Beerensträucher, Kräuter und ein wenig Gemüse. Ich war gerne mit ihr hier. Im Haus war sie oft angespannt und gereizt, aber hier in ihrem Garten war sie fröhlich und hat mit mir gelacht und gesungen. Von ihrem Werk ist anscheinend nichts mehr übrig geblieben. Unkraut und Gestrüpp, so weit mein Auge reicht.


Ich gelange hinter das Haus auf die Wiese mit ihren Apfel- und Kirschbäumen. Das war Großvaters Reich! Ich bin sehr überrascht: Die Wiese ist gemäht, die Bäume scheinen regelmäßig geschnitten zu werden. Gibt es jemanden, der diesen Teil des Gartens pflegt? Mit dem unbehaglichen Gefühl, dass andere Menschen sich auch hier aufhalten könnten, fühle ich mich beobachtet. Ich drehe mich um. Eigentlich kann mich keiner sehen. Das Haus ist unbewohnt, Bäume und eine Hecke schirmen den Blick vom Grundstück der Nachbarn ab.


Ich entspanne mich wieder, ziehe Schuhe und Strümpfe aus, lege meine Tasche ab und fühle, wie meine Füße in die weiche feuchte Wiese versinken. Ein milder Frühsommerwind kommt vom See her und streift mich sachte. Ich atme tief durch und schließe die Augen. Fast könnte ich wieder Kind sein. „Barfußindianerin“ hat mich mein Vater oft genannt und noch heute erzählt er gerne die Geschichte, wie schwer es jedes Jahr im Herbst war, mich wieder an Schuhe zu gewöhnen. Erzählte. Er erzählte. Vergangenheit. Verdammt, ich muss mich doch mal daran gewöhnen.


Etwas zieht mich an den See und etwas genauso Starkes hält mich zurück. Ich atme wieder tief durch und setze behutsam, Schritt für Schritt, meine nackten Füße in das dichte Gras. Die Schilfrohre, die fast den gesamten Ufersaum des Grundstücks einfassen, sind so hoch, dass ich dahinter keinen See erkennen kann. Gibt es den Steg und das Bootshaus gar nicht mehr? Beklommen gehe ich weiter und halte mich mehr rechts, dorthin wo früher das Bootshaus war. Der Steg ist noch da! Er ist zwar von den Pflanzen am Uferrand überwuchert und deswegen konnte ich ihn nicht sehen, aber ich kann die Halme wegdrücken und erkenne Holzplanken. Sie sehen so aus, also ob sie vor nicht allzu langer Zeit erneuert worden wären. Ich trete auf den Steg. Das Holz ist fest, kühl und glatt unter meinen Füßen. Die Sonne kommt gerade hinter einer Wolke hervor und blendet mich. Mist, meine Sonnenbrille ist noch im Auto! Ich gehe bis zum Ende des Stegs. Ich sehe kein Bootshaus. Ich setze mich auf die Kante und lasse die Fußsohlen die Wasseroberfläche berühren. Nur den See berühren, nicht zu tief eintauchen.


Ein paar Meter weiter schaukeln fröhlich ein hellblaues Kajak, ein weißes Ruderboot und ein rosafarbener Flamingo-Schwimmring einträchtig nebeneinander im Wasser, vertäut am Steg der Nachbarn. Glückliche, sorglose Kindheit. Heile Familie. Ich wende mich von dem bunten Trio ab.


Auf einmal schiebt sich eine Wolke vor die Sonne und die Welt um mich herum und in mir wird düster. Das Bootshaus gibt es nicht mehr. Großvaters Boot auch nicht. Das Unglücksboot. Großmutter hatte es so genannt. Als Kind habe ich das Boot nach dem Unfall nie wieder gesehen. Ich war gern im Boot gewesen, mit Großvater, der mit langen ruhigen Ruderschlägen eine Bahn durch das Wasser zog. Das Boot war dunkelgrün und hieß Seestern. Ich liebte es, meine Hand beim Fahren durch das Wasser gleiten zu lassen. Es fühlte sich immer kühl und lebendig an, wie ein Tier, dass man berühren, aber nie fassen und festhalten konnte. Bei Großvater durfte ich meine Hand ins Wasser halten, während ich mich mit der anderen Hand am Sitzbrett festhielt. Bei Mama und Papa durfte ich das nicht. War ich mit ihnen im Boot auf dem Wasser, musste ich mich immer auf das Sitzbrett vorne setzen, genau in die Mitte, und durfte mich nicht bewegen.     

Meine Kindheitserinnerungen sind nur Splitter, Fragmente, die ich mir mit Erzählungen von anderen zu einer eigenen Geschichte zusammengebastelt hatte. Diese Geschichte hatte ich ganz hinten, in die entlegenste Ecke meines Gehirns gedrängt. Und nun kam sie hoch. Und mit ihr die Tränen. Ich war schon im Schlafanzug gewesen an jenem Abend. Bevor Großvater und Mama aufbrachen, gab es Streit. Großmutter wollte nicht, dass sie auf „den See gehen“. Ich hasste Streit. Ich saß in der Küche und trank mein Glas warme Milch, das es bei Großmutter immer vor dem Schlafengehen gab. Auf einmal hörte ich laute Schreie. Meine Mutter! Jemand hämmerte wild an die Haustür. Großmutter lief in den Flur und öffnete die Tür. Ich rutschte von der Bank und lief ihr hinterher. Ich erschrak, als ich Mama ins Haus stürzen und auf die Knie fallen sah. Patschnass kauerte sie auf den Fliesen, hielt die Hände vor das Gesicht, schrie und wimmerte. Das Wasser lief an ihr herunter, und eine Lache bildete sich um sie herum. Ich dachte: „Jetzt haben wir einen kleinen Bodensee zu Hause.“ Ich weiß nicht, ob ich an dem Abend verstanden hatte, was passiert war. Später war Papa da, nahm mich fest in die Arme und brachte mich ins Bett.


An die Zeit nach dem Abend habe ich keine genauen Erinnerungen mehr. Aus Erzählungen meines Vaters und meiner Großmutter erfuhr ich, dass Mama und Großvater in der Seestern auf den See hinaus gerudert sind. In einem plötzlichen Wetterumschwung wurden sie bei Sturm, heftigem Regen und schlechter Sicht von einem Motorboot gerammt. Großvater wurde schwer verletzt, die Seestern stark zerstört. Großvater stürzte ins Wasser, sank und ertrank. Mama war nur leicht verletzt und konnte gerettet werden. Sie und die Besatzung des anderen Bootes hatten noch versucht, Großvater zu finden, aber es war aussichtslos bei der Wetterlage.   


Ich erhebe mich vom Steg. Der Wind ist kräftiger und kühler geworden, die Wolken sind nun dichter. Mich fröstelt. Ich kehre dem See den Rücken, gehe den Steg entlang über die Wiese, sammele meine Schuhe und Socken ein, hänge meine Tasche um. Ich gehe zum Haus. Ich bin wie betäubt. Ich lasse mich auf einem Stuhl auf der Terrasse nieder und nehme nichts mehr um mich herum wahr. Fühle nur noch diesen dumpfen bleiernen Schmerz, der mich zu lähmen scheint, sobald ich an das Unglück denke, an Mama, an Großvater, an Großmutter und an meinen Papa.


Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze. Irgendwann tauche ich aus der Starre auf. Nun ist mir richtig kalt. Ich ziehe Strümpfe und Schuhe an. Soll ich noch meine Jacke aus dem Auto holen? Ich richte mich auf und sehe erst jetzt meine nähere Umgebung: Die Steine der Terrasse, moosig und grau. Der schmuddelige Plastikstuhl. Das wilde Gestrüpp rund um die Terrasse, das kaum einen Blick auf das dahinterliegende Gelände durch lässt. Die geschlossenen Fensterläden, verwittert, splittriges Holz. Mir fällt auf, dass die Fensterläden auf der Seeseite des Hauses geschlossen sind, vorne zur Straße aber offen waren. Gibt es jemanden, der sich nicht nur um den Garten kümmert, sondern auch Zugang in das Haus hat? Seeseite, Seestern, Seegarten. Der See durchdringt alles, flutet meine Familie und tropft auf mein Schicksal. Ich habe genug. Zumindest für diesen Tag. Schließlich hatte ich mir ein ganzes Wochenende für das Haus und die Entscheidung eingeräumt.


 Kaum macht sich dieser Gedanke in meinem Kopf breit, flüchte ich geradezu aus dem Garten in mein Auto und ziehe rasch die Tür zu. Der Wagen hat sich in der Sonne aufgeheizt. Ich spüre, wie die Wärme in mich hinein kriecht. Ich lasse den Motor an und fahre zu der kleinen Pension am Ortsende, in der ich über das Wochenende ein Zimmer gebucht hatte. In der Pension beschließe ich, zu duschen, frische Sachen anzuziehen und danach in der Ortsmitte ein Lokal aufzusuchen, um etwas zu essen. Ich schlafe unruhig und träume viel.


Eigentlich, so denke ich am nächsten Morgen, als ich aufwache, kann ich frei entscheiden, was ich an diesem Tag machen möchte. Ich könnte wandern gehen oder das nahe gelegene Städtchen besichtigen. Aber ich mache mir etwas vor: In mir hatte ich längst entschieden, dass ich wieder zum Haus fahren werde. Ich musste zum Haus. Ich musste ins Haus. Noch im Bett liegend stelle ich mich dem Gedanken und akzeptiere ihn. Erstaunlicherweise macht mich das klar, gefasst und ruhig. Ich stehe auf. Ich habe einen Plan.


Vor zwei Wochen wurde Papas Testament beim Notar verlesen. Britta war da gewesen, meine Stiefmutter. Laura, meine Halbschwester. Und ich. Und der Notar. Ein holzgetäfelter Besprechungsraum, dunkel, stickig. Ich hatte das Gefühl, darin kaum atmen zu können. Nachdem der Notar das Testament verlesen hatte, übergab er mir den Schlüssel zum Haus am See und einen Brief. Flüchtig sah ich den Brief an und erkannte meinen Namen in Papas Handschrift auf dem Umschlag. Ich war fassungslos und mit der ganzen Situation überfordert. Was sollte ich mit dem Haus? Was war das für ein Brief? Und warum war Papa nicht da und erklärte mir alles? Britta schien sehr gefasst. Laura weinte die ganze Zeit leise vor sich hin. Als wir aus der Kanzlei kamen, standen wir auf dem Gehsteig und umarmten uns alle drei sehr lange.


Nach dem Bootsunfall kippte unsere Familie. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Mama lag entweder im Bett. Papa sagte, sie brauche viel Schlaf. Oder sie lief ruhelos durch das Haus und war wie abwesend. Meine Versuche, sie zum Lachen zu bringen oder sie zum Spielen mit mir zu bewegen, sind allesamt gescheitert. Im besten Fall strich sie mir über das Haar und murmelte: „Ich hab‘ dich lieb.“ Großmutter und Mama stritten oft. Sie schrien sich an. Manchmal lief Mama danach aus dem Haus. „Wo läuft sie hin?“, fragte ich Papa. „In den Seewald.“, antwortete er. „Wo ist der Seewald, Papa?“. „Das weiß nur die Mama.“ Großmutter ging auch nicht mehr mit mir in den Seegarten, sie sang nicht mehr mit mir und sprach auch kaum ein Wort. Ich klammerte mich geradezu an Papa, hing wie eine Klette an ihm, konnte nicht schlafen, wenn er nicht neben mir lag. Ich vermisste Großvater. Ich sah Mama immer weniger. „Wo ist Mama?“ „Mama ist weg gegangen.“ „Warum ist sie weg gegangen, wo ist sie?“ „Sie ist so traurig, dass Großvater gestorben ist, dass sie nicht mehr hier mit uns leben kann.“


Kurze Zeit später sind auch Papa und ich weg gegangen, sind aus dem Haus gezogen in eine kleine Stadt, weit weg vom See. Ich bin dort eingeschult worden, meine Welt hat sich völlig verändert: Eine neue Wohnung, die Schule, Freundinnen, Musikunterricht und Ballett. Habe ich Mama als Kind gar nicht vermisst? Sie ist nach dem Unfall ganz langsam aus meinem Leben geglitten. Und ich hatte ja Papa, den besten Papa der Welt! Als ich älter war, wollte ich von Papa wissen, was genau mit meiner Mama nach dem Bootsunfall passiert war und warum wir Großmutter nicht mehr besucht hatten. Aber er wurde jedes Mal so traurig, rang um seine Fassung und um Worte. Es hat mir tief ins Herz geschnitten, ihn so zu sehen. Irgendwann habe ich aufgehört zu fragen.   

       

Ich stehe wieder vor dem Haus und fühle den Schlüssel und den Brief in meiner Tasche. Ich öffne das rostige Gartentürchen, gehe den Kiesweg entlang, die drei Stufen hoch zur Haustüre. Fast bin ich versucht, den Klopfer zu betätigen. Nein. Doch! Es ertönt ein kurzes trockenes Geräusch, Metall auf Holz. Ein einmaliger Ton. Meine Ohren erinnern sich. Als ob ich nie fort gewesen wäre. Ich stecke den Schlüssel in das Schloss. Er dreht sich erstaunlich leicht und die Tür öffnet sich geräuschlos. Wieder einmal bin ich verblüfft. Hat jemand das Schloss frisch geölt? Ich trete ein. Schließe die Tür hinter mir. Schließe die Augen. Lausche. Höre meinen eigenen Herzschlag. Es riecht, wie es immer gerochen hat. Ich atme tief die staubige Luft ein. Trocken, ein wenig nach Holz, ein wenig muffig. Es ist warm. Die Türe zur Küche ist offen und Sonnenlicht fällt in einem breiten Streifen auf den Flur, auf die grauen Steinfliesen. Ich ziehe schon wieder Schuhe und Strümpfe aus. Barfuß laufen. Hier. Meine nackten Füße stehen auf dem Sonnenfleck. Ich spüre die warmen, leicht unebenen Fliesen. Sehe einen langen Riss in den Fliesen vor der Treppe. Als Kind habe ich diesen Riss geliebt. Er war ein Fluss, eine Straße, ein Weg oder eine Grenze. Großmutter wollte nicht, dass ich im Flur spiele. „Das ist zu kalt, Kind.“, sagte sie. Ich verstand nicht, was sie meinte. Als Kind war mir nie kalt.                       


Die Küche! Sie kommt mir klein vor. Auf der Eckbank wollte ich immer schlafen. Weil es so gemütlich war und warm und nach Apfelkuchen gerochen hat. Großmutter hatte gelacht über diese Idee. Wenn sie lachte, wackelte ihr kleiner Kopf mit dem Knoten, in den sie ihr Haar gesteckt hielt. Ich fand das sehr lustig und es erinnerte mich an die Zeichentrickfilme, die ich im Fernsehen sehen durfte, aber ich hatte auch immer ein wenig Sorge, dass der Knoten herunterfallen könnte.


Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich einmal so klein war, um mich auf der Küchenbank auszustrecken. Sie bietet eigentlich nur so viel Platz, dass zwei Personen nebeneinander sitzen können. Der Herd, die Schränke. Waren das noch die alten Küchenmöbel? Ich erinnere mich nicht. Der Kühlschrank sieht jedenfalls modern aus.


Ich trete wieder auf den Flur, gehe in das Wohnzimmer, mache das Licht an, die Fensterläden sind verschlossen. Hier hat sich auf jeden Fall etwas geändert. Ich erkenne die Möbel nicht wieder. Aber als Kind war ich auch nicht oft in der Stube. Großmutter wollte das nicht. Dort stand im Buffet das gute Geschirr. Sofa und Sessel trugen eine Stoffhaube, um sie vor Staub zu schützen. Großvater saß oft abends in dem Sessel am Fenster, rauchte seine Pfeife und las. Ich bin gerne auf seinen Schoß geklettert und wollte, dass er mir aus seinem Buch vorliest. Er schmunzelte dann, legte sein Buch weg und erzählte mir eine Geschichte. Keine Ahnung, was er mir erzählte. Ich mochte seine warme dunkle Stimme. Wenn ich mich an seine Brust lehnte, hörte sie sich noch tiefer an.


Ich gehe zur Terrassentür und öffne sie. Öffne den Laden. Sonnenlicht fällt in den Raum und die frische Luft vertreibt den muffigen Geruch, aber er wirkt trotzdem ein wenig trostlos. Das Parkett knarzt unter meinen Schritten. Ich gehe wieder hinaus. Eine Abstellkammer, eine Toilette, die Treppe, die in den Keller führt, die Treppe, die nach oben geht. Das ist das Erdgeschoss.     


Ich steige die ausgetretenen Stufen hoch in den ersten Stock. Das Badezimmer rechts, über der Küche. Es ist renoviert worden. Anstelle der braunen Kacheln mit Blumenmuster sind große weiße Fliesen gelegt worden. Wenn ich als Kind in der Badewanne saß, habe ich oft Blumen-sauber-machen gespielt und bin mit dem Schwamm, mit dem ich mich eigentlich waschen sollte, den Fries oberhalb des Badewannenrands entlang gefahren und fand es faszinierend, dass Wasser und Schaum in die Wanne zurück flossen und ich endlos weitermachen konnte. Die Badewanne gibt es nicht mehr, dafür eine Dusche mit einer Glastür in der Ecke.


Gegenüber vom Badezimmer liegt das Zimmer, in dem ich mit meinen Eltern geschlafen hatte. Das Zimmer ist leer. Wie haben hier denn ein Doppelbett und ein Kinderbett hineingepasst? Und hatten wir einen Schrank?


Die beiden Räume mit den Fenstern zum Garten und zum See waren das Schlafzimmer meiner Großeltern und das Arbeitszimmer von Großvater. An das Schlafzimmer erinnere ich mich gar nicht mehr. Bestimmt durfte ich nie hinein. Das Arbeitszimmer, in dem jetzt nur ein schmales Klappbett und eine alte Holzkommode stehen, habe ich immer „Höhle“ genannt. Eigentlich durfte ich darin auch nicht spielen. Aber ich war oft heimlich hier, habe die deckenhohen Regale voller Bücher bewundert und den großen schwarzen Sekretär. Unter dem Sekretär habe ich mich gerne versteckt. Und hinter den Vorhängen, die es auch nicht mehr gibt. Es roch hier immer nach Großvater und seiner Pfeife. Ich meine, dass ich diesen Geruch noch schwach wahrnehmen kann.


Ich trete zum Fenster und öffne es weit. Der Fensterladen klemmt etwas, aber dann kann ich auch ihn aufstoßen und in der Halterung einrasten lassen. Die Sonne flutet sanft in das Zimmer. Ich bin überwältigt von dem Blick, der sich mir bietet. Der Garten ist wunderschön und friedlich. Die zarten Blüten der Obstbäume sehen von oben aus wie schimmernde Perlen in einem dichten Grün. Das Gezwitscher der Vögel ist ein sanftes Naturkonzert. Das Wasser des Sees schimmert silbrig-blau, ein paar weiße Segeldreiecke sehen wie hingetupft aus. In der Ferne erkenne ich schwach das gegenüberliegende Ufer, Häuser, dahinter sanfte grüne Hügel. Es hatte morgens geregnet und ist nun etwas dunstig. Die milde Luft, die in das Zimmer schwappt, sauge ich tief in mich hinein. Nie habe ich bessere Luft geatmet! Ich fühle mich klar und gefasst und habe auf einmal den Drang, den Brief zu lesen. Ich gehe wieder hinunter in die Küche, lasse mich auf die Sitzbank fallen und öffne behutsam den Umschlag. Mehrere eng beschriebene Bögen Papier ziehe ich heraus und einen weiteren kleinen Umschlag. Mein Herz klopft wild, meine Hände zittern.


Geliebte Tochter!


Ich stelle mir gerade vor, wie Du an einem heißen Sommertag auf dem Steg sitzt, die Füße in das kühle Seewasser tauchst und meinen Brief liest. Das ist eine so schöne Vorstellung, dass mir die Tränen kommen. Ich möchte Dich mit genau diesem Bild in meiner Erinnerung behalten. Denn wenn Du diesen Brief liest, lebe ich nicht mehr. Ich möchte Dir einige sehr persönliche Zeilen hinterlassen. Ich möchte, dass Du ein paar Dinge weißt. Bitte verzeihe mir, dass ich Dir diese Dinge nie sagen konnte, aber vieles hat mich so sehr geschmerzt, dass ich nicht darüber sprechen konnte.


Das Allerwichtigste ist: Ich habe Dich sehr, sehr lieb, und ich bin sehr stolz auf Dich! Du bist Deinen Weg gegangen und bist eine selbständige, starke, fröhliche junge Frau geworden. Ich habe als Dein Vater alles versucht, damit die Geschehnisse in Deiner Kindheit Dich nicht belasten. In diesem Brief will ich ganz ehrlich sein, nichts durchstreichen und nichts beschönigen. Der Tumor zerrt an mir und zehrt mich auf. Der Brief ist mir wichtig, Du bist mir wichtig, ich muss durchhalten!


Mein lieber Schatz, meine Barfußindianerin, erinnerst Du Dich? Du warst ein so unbeschwertes liebenswertes wildes Kind! Schaukeln, klettern, rennen, hüpfen, verstecken, lachen…. Du warst immer in Bewegung. Ich sehe Dich durch den Garten tollen - barfuß natürlich! Immer hatte ich ein wenig Angst, dass Du dem See zu nahe kommst in Deinem Übermut, weil Du ja noch nicht schwimmen konntest. Aber Du bist nie alleine auf den Steg gegangen oder in Großvaters Boot geklettert. Du hattest Respekt vor dem Wasser. Rudolf hat Dich oft im Boot mit auf den See genommen. Das hast Du geliebt! Simone und Rudolf sind auch oft mit dem Boot hinaus gefahren. Ich glaube, dort war Deine Mama ihrem Papa besonders nahe. Sie sind immer sehr zufrieden zurückgekehrt, oft lachend. Nur dieses letzte Mal nicht. Ich habe Dir Zeitungsausschnitte aufgehoben über den Unfall damals. Sie sind in dem Umschlag. Ich war zu dem Zeitpunkt des Unglücks noch unterwegs gewesen und kam ausgerechnet an diesem Tag etwas später nach Hause. Das Bild, das sich mir bot, war wie in einem Albtraum. Danach war nichts mehr wie vorher, wirklich gar nichts mehr.


Wie habe ich Deine Mutter geliebt. Ihre verrückte Art, ihr Lachen, ihre Lebendigkeit. Es war kaum zu glauben, dass Simone die Tochter von Rudolf und Erna war. Deine Großeltern waren immer so ruhig, so bedacht, so zurückgezogen. Simone war die Sonne in meinem Leben, und wir hatten eine glückliche, unbeschwerte Zeit. Als Du Dich angekündigt hast, haben wir beschlossen zu heiraten und eine Familie zu gründen. Als Du auf der Welt warst, gab es für uns nichts Schöneres, als zu dritt zusammen zu sein und Dich jede Sekunde zu erleben. Simone hatte vorgeschlagen, zu ihren Eltern zu ziehen. Finanziell war es bei uns zu dieser Zeit ohnehin sehr knapp. Und Deine Großeltern haben sich sehr gefreut.


Simone ist durch den Unfall ein anderer Mensch geworden. Sie hat sich vergessen vor Kummer über den Tod ihres Vaters. Sie hat sich schuldig gefühlt, weil sie unbedingt an diesem Tag auf das Wasser wollte. Deine Großmutter hat ihr das lange vorgeworfen. Auch Erna ist seit dem Tag des Unglücks hart geworden. Beide haben sich nur noch gestritten, fast zerfleischt. Ich habe es kaum noch ausgehalten, wenn ich zu Hause war. Aber ich wollte oft zu Hause sein, bei Dir und bei Simone. Ich wollte, dass alles wieder so wird wie vorher, wieder gut und lebenswert.


Deine Mutter hat uns eines Tages verlassen. Sie hat den Schmerz und die Scham und ihre Mutter mit den Vorwürfen nicht ausgehalten. Sie hatte mir einen Brief hinterlassen. Ich wünschte, ich hätte ihn noch und könnte ihn Dir geben. Aber ich war damals am Boden zerstört gewesen. Ich habe ihren Brief zerrissen und die Schnipsel in den See fallen lassen. Später habe ich von Erna erfahren, dass Simone schon als Kind schwierige Situationen schlecht verkraftet hat. Sie war psychisch wenig belastbar. Damals hatte man das nicht ernst genommen und schon gar nicht einen Arzt konsultiert. Das Unglück und die Unfähigkeit, es zu verarbeiten, haben sie in den Selbstmord getrieben. Ich habe Dir das nie gesagt, nicht sagen können, dass Deine Mutter sich das Leben genommen hat. Viel zu sehr habe ich mich dafür verantwortlich gefühlt. Vielleicht hast Du es ja geahnt. Als Du älter warst, hast Du öfter gefragt, was genau mit Deiner Mama nach dem Bootsunglück passiert war. Meine Version von einem weiteren Unfall hast Du sehr skeptisch entgegen genommen, bist aber auch nicht weiter in mich gedrungen. Ich bitte Dich um Verzeihung, dass ich Dich angelogen habe. Ich habe diese Entscheidung getroffen, weil ich Dir den Schmerz ersparen wollte.   


Eine weitere schwere Entscheidung war, auszuziehen aus dem Haus am See, weg von Erna und allem Unglück, um mit Dir woanders ein neues Leben zu beginnen. Es tat mir weh, Erna allein zu lassen und Euch beide voneinander zu trennen. Erna war noch lange nach den beiden Unglücksfällen nicht in der Lage, sich wie früher liebevoll um Dich zu kümmern, und ich musste arbeiten. Du wolltest ohnehin immer nur bei mir bleiben und nicht mit Erna allein sein und das ging nicht.  

Als wir in die Stadt gezogen waren, bist Du aufgeblüht. In der Schule und in der Kinderbetreuung, in der Nachbarschaft hast Du schnell Freundinnen gefunden, hast die Ballettschule besucht – Du hast die Barfußindianerin abgestreift und wolltest auf einmal Prima Ballerina werden, weißt Du noch? Dabei ist mir bewusst geworden, dass Du im Haus am See kaum andere Kinder kennengelernt hattest. Du warst nicht im Kindergarten, es gab keine Kinder in der Nachbarschaft.


Ich war sehr erleichtert, dass Du nach einer Zeit des Einlebens in der neuen Stadt wieder fröhlich und glücklich schienst. Sogar so froh, dass ich Dir vieles habe durchgehen lassen und eben vieles nicht erzählt habe. Aber ich konnte nicht anders! Als ich Britta kennengelernt hatte, habe ich Dir das lange verschwiegen. Wir kannten uns schon fast ein Jahr, als ich sie das erste Mal zu uns nach Hause eingeladen hatte. Als sie nach dem Sonntagskaffee wieder weg war und ich Dich gefragt habe, wie Du sie fandest, sagtest Du: „Ganz nett, aber sie muss nicht bei uns einziehen.“ Was für feine Antennen Du hattest! Den Rest der Geschichte kennst Du: Sie ist nicht bei uns eingezogen, sondern wir bei ihr. Wir haben geheiratet, Laura ist auf die Welt gekommen,…. Ich war und ich bin mit Britta sehr glücklich. Sie hat es geschafft, mich wieder zu erden und hat mir den Halt und die Zuversicht gegeben, dass ein Unglück wie unseres nicht das ganze weitere Leben bestimmen muss.  


Erna ist nach unserem Auszug noch einige Jahre in dem Haus geblieben. Ich habe sie ein paar Mal besucht, wenn ich beruflich in der Nähe war. Sie hat Dich sehr geliebt. Ich habe ihr vorgeschlagen, dass wir beide, Du und ich, sie in den Ferien besuchen kommen, aber sie hat es abgelehnt. Sie hatte sich ihren Mann, ihre Tochter und ihre Enkelin richtig aus dem Herzen gerissen. Auch sie hat den Unfall und den Selbstmord nie verkraftet. Einige Monate nach meinem letzten Besuch hat sie einen schweren Schlaganfall erlitten und ist pflegebedürftig geworden. Ihr Bruder und ich haben beschlossen, dass sie in ein Pflegeheim in die Nähe ihres Bruders kommt. Einmal habe ich sie dort besucht, aber sie hat mich nicht erkannt. Kurze Zeit später ist sie gestorben. Sie ist auf dem Friedhof unterhalb der Dorfkirche neben Deiner Mutter und Deinem Großvater begraben.


Mein geliebtes Kind. Ich habe das Haus am See von Deinen Großeltern geerbt und möchte es an Dich weitergeben. Es muss einiges daran gemacht werden. Aber es ist immer noch in einem guten Zustand und sofort bewohnbar. Ich wünsche mir, dass Du darin einziehst. Ich sehe Dich in dem Haus. Ich sehe, wie Du die Treppe herunterkommst und lachst, ich sehe Dich Apfelkuchen backen in der Küche, ich sehe Dich, wie Du Dir Großvaters Arbeitszimmer einrichtest mit einem Schreibtisch vor dem Fenster mit der fantastischen Aussicht. Ich sehe, wie Du durch den Garten streifst, auf den Steg trittst und Deine Haare hochbindest, bevor Du schwimmen gehst.

 

 Fühle Dich jedoch zu nichts verpflichtet. Übernimm das Haus nur, wenn Du ganz überzeugt bist. Einige wichtige Dokumente zum Haus sind im Schlafzimmer in der Kommode. Darin sind auch noch persönliche Sachen. Briefe Deiner Mutter an mich, alte Fotos, ein Skizzenbuch Deiner Mutter, Rezepte von Deiner Großmutter. Bitte nimm sie in jedem Fall an Dich.


Ich war in den letzten Jahren nur noch wenige Male im Haus. Es sind die Nachbarn, die sich um das Haus gekümmert haben. Sie mähen regelmäßig den Rasen und sehen im Haus nach dem Rechten, haben also auch einen Schlüssel.

Ich bitte Dich um Vergebung, dass ich Dir einen wichtigen und schmerzhaften Teil Deiner Familiengeschichte erst jetzt weitergebe. Ich habe immer mit mir gekämpft, ob ich es Dir sagen soll. Jetzt habe ich keine Kraft mehr. Ich hatte nicht den Mut, Dir in die Augen zu sehen, Dir alles zu erzählen und mich Deinen Fragen zu stellen. Vielleicht hatte ich auch Angst, dass Du mir die Schuld gibst und mich nicht mehr liebst. Ich hoffe sehr, dass Du mir vergibst!   


Ich bin erfüllt von Dankbarkeit und Liebe, wenn ich an Dich denke und an die gemeinsame Zeit, die wir miteinander verbracht haben, auch in dem Haus am See. Du weißt, dass ich nicht gläubig bin, aber mir gefällt die Vorstellung, dass wir uns eines Tages im Himmel wiedersehen werden.

 

Dein Dich liebender Vater



Ich lasse den Brief sinken, die Tränen strömen mir über das Gesicht. Tausend Gedanken wirbeln gleichzeitig durch meinen Kopf. Ich komme mir vor, also ob ich gerade in eine riesige Welle geraten bin, von ihr mitgerissen werde, mich mehrmals unter Wasser überschlage, gar nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, gar keine Luft bekomme.


Aber nach einer Weile spüre ich wieder Grund unter meinen Füßen, ich strecke mich und tauche wieder auf, hebe meinen Kopf aus dem Wasser. Die Welle ist zu Gischt zerstoben. Ich bin benommen, fast schwindlig. Aber ich kann wieder sehen, ich kann wieder atmen. Ich bin ganz bei mir und dann werden meine Gedanken glasklar.


Ich muss jetzt auf den Friedhof.


Danach werde ich meine Tasche aus der Pension holen und hier im Haus schlafen. 




 

       

Ellen Kamrad, September 2021, anlässlich des Open Call "Beziehungsstatus: Offen. Kunst und Literatur am Bodensee"

Share by: